In der Zeitschleife: Thorolf Lipp anlässlich des Symposiums „Vergangenheit braucht Zukunft“ (Juli 2016)

Vor etwa einem Jahr, am 8. Juli 2016, veranstaltete die Sektion Film, Rundfunk und Audiovisuelle Medien des Deutschen Kulturrates in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt in Berlin das Symposium „Vergangenheit braucht Zukunft!“, in dessen Rahmen „Strategien für einen nachhaltigen Umgang mit dem audiovisuellen Kulturerbe Deutschlands“ diskutiert wurden. Unser Bericht zum Symposium ist hier zu finden (für englischsprachige Leser hier).
Thorolf Lipp, stellvertretender Sprecher der Sektion, stellte uns im Nachgang der Veranstaltung das Manuskript seiner Eröffnungsrede zur Verfügung, das wir nun, da die hier dargelegten Positionen nichts an Gültigkeit verloren haben, mit einjährigem Abstand zum Symposium veröffentlichen.

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
als Vertreter der Sektion „Film, Rundfunk und audiovisuelle Medien“ heiße ich Sie auf das Herzlichste Willkommen!
Zur Sektion: Wie der Name schon sagt, ist unsere Sektion für alle Fragen der Film-, Rundfunk-, und Medienpolitik im Deutschen Kulturrat zuständig. Wir beraten innerhalb unserer Sektion aktuelle medienkulturpolitische Fragen und speisen diese Perspektiven in die Arbeit des Deutschen Kulturrates ein, etwa in Form von Stellungnahmen.
Darüber hinaus tragen wir zu informellem und, gerade daher oft sehr effektivem, Informationsaustausch innerhalb unserer Partnerinstitutionen und Verbände bei.
Schließlich beginnen wir mit diesem Symposium darüber hinaus auch ein echtes Eigenleben zu entwickeln: Weil in Fragen des audiovisuellen Erbes so gut wie alle unsere Mitglieder „Aktien im Spiel“ haben, betroffen sind, Probleme erkennen – konnten wie hier nun erstmals gemeinsam auch konkret Handeln und freuen uns an der Resonanz darüber!
Wir freuen uns, dass es gelungen ist, so viele hervorragend ausgewiesene Fachvertreter zu einem Besuch dieser Veranstaltung zu bewegen und wollen mit diesem Symposium versuchen einen Beitrag zu leisten zu einem Thema, das seit Jahren diskutiert wird, in jüngster Zeit aber merklich an Fahrt aufgenommen hat. Dafür gibt es mehrere gute Gründe!
Nach dem Fall der Mauer, dem Ende der Teilung Europas, konnte man gelegentlich den Eindruck haben, die Dynamik des kulturellen Prozesses habe sich von einer Vorwärtsbewegung in eine Art stabiler Seitenlage bequemt. Schon noch am Leben, aber irgendwie satt in sich ruhend und in inneren Selbstbespiegelungen gefangen. Francis Fukuyama sprach in diesen Jahren vom „Ende der Geschichte“ da es angeblich keine – im Hegelschen Sinne – fundamentalen weltpolitischen Widersprüche mehr gebe.
Das Ende der Geschichte dauerte de facto allerdings nur eine knappe Dekade. Spätestens am 9. November 2001 wurde klar, dass mit dem globalen Terrorismus neue Akteure von weltpolitischer Bedeutung, aber in diesem Ausmaß unbekannter Prägung, auf den Plan getreten waren. In den Folgejahren kamen Problemlagen wie Klimaerwärmung, Bankenkrise, Vertrauenskrise etc. hinzu.
Das Ende der Geschichte ist also nicht nur nicht eingetreten, es war und ist vielmehr genau das Gegenteil, nämlich die Beschleunigung, die in allen, wirklich in allen, Lebensbereichen unsere Existenz derzeit prägt. Und trotzdem, und das ist das Erstaunliche, kommt es mir häufig so vor, als seien wir dort, wo wir Gesellschaft wirkmächtiger als irgendwo sonst verhandeln – damit meine ich die audiovisuellen Medien (Fernsehen ist Leitmedium) – in einer Zeitschleife des einerseits Hyperaktuellen und anderseits formal und inhaltlich ewig Gleichen gefangen.
Der kulturwissenschaftliche Befund weicht von dieser medial suggerierten Zeitschleife des immer schneller um sich selbst rotierenden Gleichen – die allerdings von immer breiteren Bevölkerungsschichten nicht mehr als glaubwürdig empfunden wird – deutlich ab:
Wir befinden uns in einer hochproblematischen Übergangszeit. Dabei ist derzeit kaum etwas so dringend notwendig wie ein Überdenken zentraler kultureller Prämissen: zügelloses Wachstum, Effizienz- und Machbarkeitswahn, Hyperproduktivität, Naturverbrauch, Beschleunigung und Extraktivismus haben einerseits zu einem ungeheuren zivilisatorischen Höhenflug geführt, andererseits aber auch zu einer bedrohlichen Hybris und Kontextvergessenheit des Menschen.
Fast überall in der westlichen Welt wächst die Schere zwischen Armen und Reichen, steigt die Anzahl der prekär Selbständigen und geringfügig Beschäftigten, Arbeitslosen und Transferleistungsempfängern, die als Zwangsentschleunigte an den zentralen Versprechen dieser Moderne auf Selbstbestimmung, Partizipation und Gerechtigkeit kaum noch teilhaben können. Die demokratische Idee wird permanent von der Eigendynamik des sog. „Marktes“ unterlaufen, der vielfach die schlechteren Eigenschaften des Menschen bewusst stimuliert und sich, wenn er unreguliert ist, oft genug gegen das Gemeinwohl richtet.
Tatsächlich sind diese Probleme nicht mit Naturgewalt über uns hereingebrochen, sondern das Ergebnis von menschlichen Handlungen, denen grundfalsche kulturelle Prämissen zugrunde lagen, weshalb es nicht reicht, nur die Symptome kurieren zu wollen. Mit anderen Worten: Wir leben im Anthropozän, in einer Welt also, in der wir Menschen zum wirkungsmächtigsten Umweltfaktor geworden sind. Wir haben selbst in der Hand, ob es für uns überhaupt noch eine lebenswerte Zukunft geben wird.
Eine hoffnungsvolle Nachricht lautet, dass wir die Kriterien für unser Welt- und Menschenbild, für die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, vor allem aus der Selbstbespiegelung ableiten. Wir können, wenn wir nur wollen, fehlgeleitete Ideologien und soziale Praxen reformieren, nach denen es unserer krisengeschüttelten Epoche so dringend verlangt.
Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist – natürlich – der Perspektivwechsel!
„Wie lebte, arbeitete, liebte man zu anderen Zeiten und an anderen Orten? Welche Geschichten hat man einander erzählt? Welche Prämissen für das eigene Leben und das von anderen hat man gesetzt? Wie ist man mit der Natur umgegangen? Wie mit der Geschichte?“
Und natürlich folgt auf diese Fragen die alles entscheidende Anschlussfrage: „Wie wollen wir selbst eigentlich leben?“
Und: „Woran orientiere ich mich dabei?“
Und damit komme ich zum Kernthema dieses Symposiums. Zu der Frage nämlich, WOZU die Vergangenheit eigentlich noch eine Zukunft braucht und WARUM es lohnend ist, Ungleichzeitigkeit in einem Meer von Gleichzeitigkeit aktiv herzustellen?
Die basale Antwort auf diese Frage lautet: Um der Dynamik des kulturellen Prozesses eine Chance auf Re-Orientierung zu geben. Um in der Retro-Spektive auch neue Perspektiven zu entdecken. Darum geht es. Ganz einfach – und genauso schwierig
Natürlich geht es bei dem, was wir heute diskutieren wollen auch um organisatorisch-technische Fragen, es geht auch um Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten. Es geht um Filmkunst und -kultur mit allen seinen Implikationen. Und es geht um nicht wenig Geld.
Dennoch, den letzten und wichtigsten Grund – wir brauchen die Retro-Spektive für neue Perspektiven – sollten wir bei allen notwendigen fachlichen Auseinandersetzungen niemals aus den Augen verlieren. Weil eine Menge auf dem Spiel steht sind wir alle aufgefordert die Nebel zu lichten, die die Logik verengter institutioneller Begründungszusammenhänge in der Regel so mit sich bringt. Genau das ist die Herausforderung, unsere Chance und unsere Verantwortung.
Wir wollen mit diesem Symposium einen kleinen Beitrag dazu leisten, gemeinsam zu überlegen, WIE es besser als derzeit gelingen kann, diese Perspektiven nicht nur zu SICHERN, sondern auch ZUGANG zu ihnen herzustellen. Denn – und das ist keinesfalls minder wichtig – wir sollten sie viel öfter als es derzeit der Fall ist, aus dem Speichergedächtnis ins kulturelle Funktionsgedächtnis zurückzuholen, wo sie Impulse setzen können für eine Zukunft, die weiss, aus welcher Vergangenheit sie hervorgegangen ist.

 

Wir danken Thorolf Lipp für die Überlassung seines Manuskriptes. Kursive Hervorhebungen durch die Redaktion.