In Sachen Filmerbe: Interview mit Prof. Chris Wahl (DA)

Während sich im Feuilleton eine unvermindert lebhafte Diskussion ums nationale Filmerbe abspielt und Staatsministerin Prof. Monika Grütters die umfassende Digitalisierung dieses Erbes als „Jahrhundertaufgabe“ ausruft, sind im Fernsehen kaum noch Spielfilme zu sehen, die älter als 25 Jahre sind. Auch Kinoveranstaltungen mit Archivfilmen erreichen nur ein Nischenpublikum und DVD-Ausgaben deutscher Filmklassiker nur kleine Auflagen.
Zu dieser Diskrepanz zwischen der kulturellen Bedeutung des Filmerbes und dessen geringer öffentlicher Wahrnehmung befragte Dirk Alt Prof. Chris Wahl, der seit 2013 die DFG-Heisenberg-Professur für das Audiovisuelle Kulturerbe an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf innehat. Er leitet das DFG-Projekt „Regionale Filmkultur in Brandenburg“ und ist maßgeblicher Architekt des interdisziplinären Master-Studiengangs „Filmkulturerbe“.
Das folgende Gespräch wurde im Frühjahr 2017 schriftlich geführt.

DA: Prof. Wahl, Sie haben an der Filmuniversität Babelsberg eine Professur für das Audiovisuelle Kulturerbe inne. Ist der Begriff Audiovisuelles Kulturerbe gleichzusetzen mit dem des Filmerbes, über dessen Rettung seit Ende 2013 so viel diskutiert wird?

Prof. Chris Wahl. Foto: Jürgen Keiper

CW: Das hängt natürlich davon ab, wie eng oder weit man „audiovisuell“ bzw. „Film“ definiert. Manche verstehen „audiovisuell“ im Sinne von auditiv und/oder visuell und beziehen also Schallplatten oder Fotos mit ein; ich persönlich beziehe mich auf Medien, die sowohl auditiv als auch visuell sind und damit im Grunde auf das Bewegtbild, das schon zu Stummfilmzeiten einen (potentiellen) Ton hatte. Damit wären wir dann bereits bei der weitesten Definition von „Film“, die man mit dem Begriff „audiovisuelles Bewegtbild“ umschreiben könnte; von den engen Definitionen, die im Extrem nur den Kinospielfilm meinen, halte ich nichts.
Das audiovisuelle Bewegtbild umfasst alle Formate und Gattungen, egal ob sie im Kino, Fernsehen, Internet oder Museum gezeigt werden. In der Produktion ist der technische und personelle Unterschied nicht so furchtbar groß, ob ich Videokunst, Fernsehdokus oder Kinospielfilme mache, auch das Publikum kann durchaus dasselbe sein, in der Archivierung sind diese Bereiche allerdings streng getrennt. Es ist eine interessante Frage, ob das so sein muss, die im Zeitalter der gleichmacherischen Digitalisierung noch einmal neu gestellt werden sollte. Schon heute ist nicht in allen Ländern die diesbezügliche Trennung so strikt wie in Deutschland, vor allem nicht zwischen Kino- und Fernseharchivierung.
Nach der Logik von FFA und BKM gehört ein Fernsehfilm nicht zum Filmerbe, weil sie sich auf die Kinoauswertung fokussieren. Das hat ganz unmittelbare Konsequenzen, da hierzulande nicht einmal die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender den Auftrag haben, eine angemessene Zugänglichkeit herzustellen, auch nicht für die Wissenschaft. Ich finde, es ist ein wesentlicher Nachteil der von Ihnen angesprochenen Diskussion um das Filmerbe, dass wir noch immer nicht über das beim Fernsehen liegende Erbe sprechen. Um diesen Mangel aufzuzeigen, ist der Terminus „audiovisuelles Erbe“ vielleicht hilfreich.
Da meine Professur ursprünglich eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestiftete Heisenberg-Professur war, die man unter bestimmten Voraussetzungen für sich selbst beantragen kann, habe ich die Denomination „Audiovisuelles Kulturerbe“ ganz bewusst gewählt. Der Begriff „Kulturerbe“ statt „Erbe“ soll auch eine Anschlussfähigkeit mit anderen Kulturgütern bzw. mit den entsprechenden UNESCO-Programmen signalisieren (z.B. mit dem Weltdokumentenerbe, zu dem seit der Ernennung von Fritz Langs METROPOLIS im Jahr 2001 auch Bewegtbilder gehören), denen ich allerdings durchaus kritisch gegenüberstehe.

DA: Inwieweit und weshalb fühlen Sie sich persönlich der Bewahrung dieses Erbes verpflichtet?

CW: Es wäre falsch ausgedrückt, wenn ich behaupten würde, mich der Bewahrung dieses Erbes verpflichtet zu fühlen; dies tun, so hoffe ich, in erster Linie die zuständigen Archivare. Meine Rolle ist die geisteswissenschaftliche Durchdringung des Gegenstandes, die Etablierung eines entsprechenden universitären Studiengangs und die Aufklärung der Öffentlichkeit über dieses Thema. Es gibt an der Filmuniversität inzwischen den Master-Studiengang Filmkulturerbe, der mit vielen Institutionen des audiovisuellen Erbes kooperiert; es entstehen bei uns wissenschaftliche Promotionen und seit neuestem kann man in Babelsberg im Fach „Filmkulturerbe“ sogar wissenschaftlich-künstlerisch promovieren; gemeinsam mit Jürgen Keiper habe ich 2013 das Blog www.memento-movie.de ins Leben gerufen und seit 2015 betreibe ich die Schriftenreihe „Film-Erbe“ in der edition text + kritik (München). Auf dieser Basis soll es in den nächsten Jahren weitergehen.
Ich wundere mich allerdings, wenn wir schon von persönlicher Verpflichtung sprechen, warum vonseiten der Filmschaffenden so wenig Engagement für ihr Erbe kommt. Es würde gerade in der politischen Diskussion ungemein nützen, wenn bekannte Persönlichkeiten wie Wenders oder Schlöndorff sich vehement und lautstark für die Erhaltung des Filmerbes im allgemeinen – nicht nur ihres eigenen Oeuvres – einsetzten, so ein bisschen nach dem Vorbild von Martin Scorsese in den USA. Und was gibt es denn wichtigeres für Filmemacher, und hier vor allem für den Nachwuchs, als Zugang zu einer reichhaltigen Filmgeschichte zu haben, die man studieren, von der man sich absetzen und in die man schließlich selbst eingehen kann. Es wird ja in der Öffentlichkeit viel diskutiert, warum deutsche Filme keine internationalen Preise gewinnen und auch sonst wenig innovativ oder aufregend sind. Komischerweise bringt das niemand mit dem herrschenden Desinteresse an der Film- und Fernsehgeschichte in Verbindung, als ob es nicht bekannt wäre, dass die Vertreter der Nouvelle Vague und aller anderen Wellen sich nonstop alte Filme reingezogen haben. Wer nicht weiß, wo er herkommt, kann nur imitieren und nicht selbst gestalten.
An dieser Stelle mag man sich fragen, was eigentlich der Unterschied zwischen „Filmgeschichte“ und „Filmerbe“ ist. Da gibt es einige, aber der vielleicht wichtigste ist, dass der Begriff „Erbe“ auf die Bedingungen verweist, unter denen Filmgeschichte überhaupt geschrieben werden kann. „Erbe“ lässt sich in einen Dreiklang aus biologischen, rechtlichen und kulturellen Aspekten auffächern. Man könnte diese drei Aspekte als „Vererbung“, „Erbschaft“ und „Erbe“ bezeichnen und mit dem Materialzustand sowie dem legalen und dem ideellen Besitz gleichsetzen. In Bezug auf den Film verdeutlich dies ein Zusammenspiel verschiedener Akteure wie Archiven, Rechteinhabern und Öffentlichkeit, das schwierig zu organisieren, aber dessen Funktionieren für Definition, Zustand, Zugänglichkeit und Anerkennung des Filmerbes ausschlaggebend ist.

DA: Eine der Kontroversen der Filmerbe-Debatte betrifft die Frage, wie man Analogfilme im digitalen Zeitalter für die Zukunft sichert. Staatsministerin Prof. Grütters tritt im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Bundesarchivs für eine digitale Lösung ein. Die Österreicher haben sich dagegen für die Sicherung ihres Filmerbes auf langzeitstabilem photochemischem Film entschieden. Was halten Sie für die bessere Option bzw. was ist an der digitalen, was an der physischen Sicherung zu begrüßen?

CW: Naja, die Argumente für und wider die eine oder andere Lösung sind ja hinlänglich bekannt. Der photochemische Film ist sicherlich das stabilere Speichermedium, mit dem man zudem seit Jahrzehnten Erfahrungen sammeln konnte. Die digitale Archivierung steckt gewissermaßen noch in den Kinderschuhen, allein was geeignete Formate und Codecs betrifft. Zudem handelt es sich eben um eine Prozessarchivierung, insofern ständig migriert oder emuliert werden muss; das bedeutet auch, dass man mit nicht abschätzbaren Folgekosten zu rechnen hat, da Träger und Technik regelmäßig ausgewechselt werden müssen. Kosten für Standort/Lagerung und Klimatisierung fallen sowohl bei Filmrollen als auch bei Servern an. Der Vorteil der digitalen Archivierung ist sicherlich, dass sie den derzeitigen und wahrscheinlich zukünftigen Produktionsverhältnissen entspricht, was gleichzeitig der große Nachteil der analogen Archivierung ist, da man nicht weiß, wie lange Material, Geräte, Ersatzteile und kundiges Personal überhaupt noch und in welchem Rahmen verfügbar sein werden.
Welche Option ich persönlich für die bessere halte, ist völlig unwichtig, zumal es in dieser Sache sicherlich kompetentere Leute gibt. Viel wichtiger finde ich die Frage, wer eigentlich auf welcher Grundlage entscheidet, welcher Weg in Deutschland beschritten wird. Und zur Beantwortung dieser Frage ist die Studie aus Österreich nun wirklich hoch interessant, gerade wenn man sie mit dem völlig unzureichenden PWC-Gutachten vergleicht, in der es einzig um die Frage ging, wie teuer die Digitalisierung des deutschen Filmerbes sei, wobei noch nicht einmal Einigkeit besteht, ob die Digitalisierung zur Zugänglichmachung oder zur Sicherung gemeint war oder beides. Die Österreicher haben stattdessen grundsätzlich alles zur Disposition gestellt bis hin zur Fusion bestehender Einrichtungen. Es ging um eine strukturelle Bestandsaufnahme und um eine Darstellungen von Idealoptionen für die Zukunft. Befragt wurden dazu nicht nur die betroffenen Akteure, sondern eine ganze Reihe von weiteren Leuten aus dem In- und Ausland. Es ist mir ein Rätsel, warum die deutsche Politik so etwas nicht schon vor Jahren in Auftrag gegeben hat. Man kann jetzt über die Österreicher lachen und sagen: Das, was in euren Papieren steht – z.B. in dem vom Bundeskanzleramt veröffentlichten gemeinsamen Positionspapier von Österreichischem Filmmuseum und Filmarchiv Austria „Vision und Mission für das Filmerbe in Österreich“ –, werdet ihr ohnehin nicht alles umsetzen, aber es wird dort in Zukunft niemand mehr behaupten können, nicht gewusst zu haben, was eigentlich hätte getan werden müssen.
Auf jeden Fall sollte man in Deutschland offen darüber diskutieren, ob es nicht sinnvoll wäre, die analogen Strukturen im Filmbereich auf einem bestimmten Level für das Erbe zu erhalten. Man kann nicht so tun, als ob wir uns von heute auf morgen in einem rein digitalen Zeitalter befinden würden; vorerst sind wir, zumindest was die Bestände angeht, hybrid analog-digital. Das bedeutet natürlich doppelte Kosten, aber die Alternative könnte ein Kahlschlag sein, den man später bereuen wird. Darüber hinaus wäre es sicherlich sinnvoll, den Kinematheksverbund zu einer Art nationalem Rat für das audiovisuelle Erbe umzubauen, in dem dann auch kleinere Einrichtungen, Privatsammler, Wissenschaftler, Journalisten, Filmschaffende, Dienstleister sitzen könnten sowie die Archivare der Fernsehsender und der verschiedenen Videokunst-Bestände. Momentan kommt mir das wie so ein Ping-Pong-Spiel zwischen der Regierung und einigen von dieser abhängigen Institutionen vor, das nur bedingt zu mutigen Entscheidungen führen kann. Eine solche Entscheidung wäre die Anhebung der Etats, die bessere Ausstattung der Filmerbe-Einrichtungen. Projektförderungen sind sowohl im Bereich der Digitalisierung als auch der Sicherung, Aufbereitung und Zugänglichmachung von Kulturerbe ein geradezu absurdes Unterfangen. Diese Diskussion um 2, 3, 4 oder 5 Millionen, die wir seit Jahren führen, ist einfach nur kleinkariert, unwürdig und lächerlich.

DA: Eine andere Kontroverse betrifft die Forderung nach Priorisierung von Rettungsmaßnahmen für bedrohte Bestände. Wie beurteilen Sie die Lage, muss priorisiert werden, und wenn ja, nach welchen Kriterien?

CW: Es wird bei der Digitalisierung über eine Priorisierung gesprochen, für die der Kinematheksverbund einen ganz vernünftigen Vorschlag gemacht hat: Ein Drittel der zu digitalisierenden Filme soll aus kaufmännischen Gründen (noch kinotauglich) ausgewählt werden, ein Drittel aus konservatorischen (akuter Zerfall) und ein Drittel aus kuratorischen (wichtiges Filmerbe). Trotzdem sehe ich Probleme: So ist beispielsweise relativ klar, dass die FFA über die kaufmännischen und die betroffenen Archive über die konservatorischen Fälle entscheiden; aber wer bestimmt, was wichtiges Filmerbe ist? Diese Frage ist überhaupt nicht trivial, wie die angesprochene Variationsbreite des Begriffs richtig vermuten lässt, und die x-te Erwähnung der FEUERZANGENBOWLE in politischen Reden kann einem diesbezüglich regelrecht Angst machen. Es ist noch lange nicht bei allen angekommen, dass auch Industriefilme, Lehrfilme, Werbefilme oder Amateurfilme einen sehr wichtigen Teil des Erbes darstellen. Und Filmerbe ist eben nicht das, was übrig bleibt oder was irgendjemand für wichtig erklärt, sondern ganz einfach alles, was jemals produziert wurde. Deshalb wäre ein richtiges Dépôt légal wie bei Büchern statt der löchrigen und inkonsequenten Pflichtabgabe für geförderte Filme, wie sie bei uns in Kraft ist, auch so wichtig. Denn eines muss man sich immer wieder vor Augen halten: Was in Zukunft interessant sein wird, ist schwer vorauszusagen; im Zweifel sind es eher die Filme, die man heute für unwichtig hält. Wer hätte vor 70 Jahren gedacht, dass irgendwelche Amateuraufnahmen einmal zu zentralen Quellen der Zeitgeschichte werden würden, auf die keine Fernsehdokumentation mehr verzichten kann? Und anders herum gibt es auch die Verpflichtung, mit dem ungeliebten Erbe wie den Filmen aus der Nazizeit offensiv umzugehen anstatt sie vor sich hin vegetieren zu lassen. Aus diesen Gründen sind die Gerüchte sehr bedenklich, nach denen Beamte der BKM letztlich entscheiden, welche Filme die SDK oder das DIF mit den von der Regierung bereitgestellten Geldern digitalisiert. Wenn das stimmt, was ich gehört habe, wird da de facto Zensur ausgeübt. Das wäre geradezu ein Skandal.
Ein anderes Problem besteht darin, dass die wahren Möglichkeiten der Digitalisierung im Filmerbe-Bereich überhaupt nicht genutzt werden, denn diese gehen weit über das reine Verfügbarmachen von Filmen hinaus. Schlagwörter wären hier: partizipieren und kontextualisieren. Warum lässt man nicht viel mehr Leute in angemessener Form über Online-Verfahren an Entscheidungsprozessen mitwirken, die am Ende zu einer Kanonisierung des Filmerbes führen? Ein Vorbild könnte das US-amerikanische National Film Registry sein. Das ist auch eine Frage der Transparenz. Außerdem sollte man sich gerade für jüngere Leute geeignete Formen der Ansprache und Mitnahme ausdenken, sonst interessiert sich in wenigen Jahren wirklich niemand mehr für Filmgeschichte, zumal diese in der Schule ja nach wie vor keine Rolle spielt. Eine an der Filmuniversität entstandene Masterarbeit hat beispielsweise gezeigt, wie rudimentär die Nutzung von sozialen Medien in den Filmerbe-Institutionen ist.
Die Digitalisierungsstrategie, wenn man sie denn so nennen soll, die über die PWC-Studie verankert wurde, tut so, als ginge es einfach nur darum, analoge Filmrollen einzuscannen. Zum einen besteht das Filmerbe aber nicht nur aus den Filmen selbst, sondern auch aus den in den Museen gesammelten filmbegleitenden Materialien (Fotos, Zeichnungen, Schriftstücke aller Art, Requisiten usw.); zum anderen sind die eingescannten Filme erst zugänglich, wenn man ihnen auch eine Plattform schafft – im Kino werden nur die wenigsten laufen. Auf einer solchen Plattform könnten Filme und filmbegleitende Materialien durch ihre Reduktion auf binäre Codes gemeinsam abgebildet und miteinander verlinkt werden, so dass für Forscher ein großes Quellenreservoir und für das Publikum ein (möglicherweise durch Storytelling verstärkter und gelenkter) Zusammenhang geschaffen werden könnte, der es ermöglicht, auch alte oder ungewöhnliche Filmmaterialien zu verstehen und zu genießen. Filmgeschichte will aufbereitet werden. Da erkenne ich momentan keine Strategie. Der renommierte niederländische Filmerbe-Kurator Nico de Klerk hat genau diese Unterlassung in seiner kürzlich an der Universität Utrecht eingereichten Doktorarbeit massiv kritisiert. Man könnte statt oder neben einer Plattform sicherlich auch über einen digitalen Archiv-Fernsehkanal nachdenken, wie ihn der Deutsche Medienrat jüngst gefordert hat. Ideen gibt es genug.

DA: Die Durchführung der von Staatsministerin Prof. Grütters angestoßenen und geförderten Digitalisierungsoffensive liegt in den Händen des Kinematheksverbundes, der die damit zusammenhängenden Kriterien und Parameter sowie die entsprechende Arbeitsteilung bereits Ende 2015 in einem Positionspapier fixiert hat. Halten Sie den KV für die geeignete Organisationsform zur Bewältigung dieser, so Grütters, „Jahrhundertaufgabe“?

CW: Ich halte es generell für eine Fiktion, zu glauben, dass man ein nationales Filmarchiv durch die Aufgabenverteilung in einem Verbund ersetzen kann, zumal in einem Verbund, in dem sich alle Beteiligten um dieselben Regierungsgelder streiten müssen. Filmarchive sind nicht mit klassischen Archiven zu vergleichen, weshalb manche auch Filmmuseum oder Kinemathek heißen. Der Name bedeutet eine Nuancierung, aber eigentlich haben sie alle dieselben Aufgaben, nämlich Sammlung/Sicherung, Konservierung/Katalogisierung, Restaurierung/Rekonstruktion, Kuratierung/Vermittlung, Ausstellung/Vorführung. Die Logik des Kinematheksverbundes ist, dass man diese Aufgaben untereinander aufteilen könnte. Da gibt es aber zum einen in der Praxis gewaltige Überschneidungen und zum anderen ist das aus meiner Sicht auch nicht zielführend: Um effektiv zu arbeiten, benötigt man eine zentrale Einrichtung, die groß und stark genug ist, alle Felder zu bedienen, Standards zu setzen, voran zu schreiten; dieses Nationalarchiv kann dann durch regionale und spezialisierte Institutionen ergänzt werden.
Von den Beständen her müsste eigentlich das Filmarchiv im Bundesarchiv diese Rolle übernehmen. Durch die Eingliederung in das Aktenarchiv des Bundes wird aber von vorne herein verhindert, dass Deutschlands mit Abstand größtes Filmarchiv diese Rolle auch spielen kann. In einem klassischen Archiv wie dem Bundesarchiv kommen die Archivalien automatisch ins Haus und werden dann nach bestimmten regeln kassiert oder eben gesichert. Das hat überhaupt nichts mit der aktiven Sammlungspolitik zu tun, die ein Filmarchiv leisten muss, also beispielsweise Filme im Ausland zu akquirieren, die man im Bestand haben möchte. Hier sind wir schon beim zweiten Problem: im Bundesarchiv versteht man nicht, dass „deutsch“ als Sammlungsschwerpunkt in einem Filmarchiv etwas anderes bedeutet als in einem Archiv für Regierungsakten. Die Österreicher haben das in ihrem Strategiepapier schön auf den Punkt gebracht, indem sie österreichische Filme als solche definiert haben, „die in Österreich produziert wurden und werden, die sich mit Österreich beschäftigen, die Österreich zeigen, bei deren Entstehung Menschen mit Bezug zu Österreich eine wesentliche Rolle spielten und spielen, die in Österreich eine breitere Rezeption erfahren und/oder die in Österreich Gegenstand der Forschung und Diskussion sind, waren und sein werden.“ Wow! Im Bundesarchiv will man ja nicht einmal wahr haben, dass deutsche Synchronisationen von ausländischen Filmen Teil des deutschen Filmerbes sind. Das Staatliche Filmarchiv der DDR, zum Vergleich, hat DEFA-Synchronisationen gesammelt, weshalb die auch heute noch erhalten sind.
Eine der zentralen Aufgaben für ein Filmarchiv ist es, eine Vertrauensbasis mit Produzenten und Rechteinhabern aufzubauen; einem Archiv mit den Strukturen des Bundesarchivs wird das allerdings niemals gelingen. Das liegt auch an der Stellen- und Personalpolitik. Im Bundesarchiv-Filmarchiv, das mit seinen Beständen zu den größten und bedeutendsten der Welt gehört, arbeitet kein einziger ehemaliger Filmschaffender, geschweige denn Filmwissenschaftler oder -historiker. Stattdessen stammen die Mitarbeiter von der Archivschule in Marburg, wo audiovisuelle Medien in der Ausbildung keine Rolle spielen. Wenn man dann noch vergleicht, was für ein spektakuläres Gebäude sich beispielsweise die Holländer für ihr EYE Filmmuseum hingestellt haben und in was für einer Behörde des Grauens die Filmabteilung des Bundesarchivs untergebracht ist, hat man leider einen ganz guten Eindruck, welchen Stellenwert das Filmerbe in der hiesigen Politik einnimmt.

DA: Wie ist zu erklären, dass sich nur vereinzelte Vertreter der Geschichts- und Filmwissenschaft in die Filmerbe-Debatte eingeschaltet haben? Warum nimmt die Wissenschaft keinen stärkeren Anteil, obwohl sie doch langfristig um ihre materielle Forschungsbasis bangen muss?

CW: Das liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass es in Deutschland eigentlich keine akademisch institutionalisierte Filmgeschichte gibt, sondern viele Aktivitäten von kleinen Vereinen wie CineGraph Hamburg oder CineGraph Babelsberg ausgehen. Durch die Eingliederung in die sehr theoretisch orientierte Medienwissenschaft sind auch Filmwissenschaftler unter Druck gekommen, möglichst hochtrabende oder dem Zeitgeist entsprechende Themen zu bedienen, also irgendetwas mit Gender, Games, Kybernetik oder Digitalizität, um es mal polemisch auszudrücken. Als ich vor 15 Jahren in Bochum promoviert habe, war ich der einzige mit einem filmhistorischen Thema und Forschungsreisen in Archive. Andere Promovenden haben mich damals gefragt, warum ich nicht etwas Theoretisches machen würde, das sei doch viel unkomplizierter. Zu der Zeit war der kulturwissenschaftliche Hype um das „Archiv“ ja schon im Gange, aber der scheint sich zumindest im Filmbereich eher nicht auf ein konkretes Interesse an Archiven bezogen zu haben.
Nichtsdestotrotz ist der Kontakt zwischen Filmerbe-Institutionen und Wissenschaftlern absolut ausbaufähig, beispielsweise durch einen größeren personellen Austausch, wie er von den entsprechenden (neuen) Studiengängen in Babelsberg, Berlin und Frankfurt/Main angestrebt wird, oder durch den Aufbau eines gut ausgestatteten „Studienzentrums Film“, wie es in den österreichischen Papieren gefordert wird. Tatsache ist, dass es in der universitären Film- und Medienwissenschaft an Kenntnissen über die Situation und Funktion der Archive mangelt, während man, wie Nico de Klerk in seiner Dissertation anmerkt, in den Filmerbe-Institutionen nicht immer auf dem neuesten Stand der Forschung ist, was sich beispielsweise in Ausstellungskonzepten oder Publikationen niederschlage. Und nicht zuletzt am Fall der erst kürzlich gestoppten Nitro-Kassation im Bundesarchiv-Filmarchiv kann man ja sehen, wie abgeschnitten manche Einrichtungen in Deutschland von wissenschaftlichen Erkenntnissen und internationalen Praxen sind.

DA: Wir leben in Zeiten, in denen das Misstrauen gegenüber dem Wahrheitsgehalt audiovisueller Medien ähnlich rapide zunimmt wie das Interesse an Tradition und Geschichte (auch Filmgeschichte) im Schwinden ist. Stimmen Sie dem zu, und ergeben sich daraus für die audiovisuelle Überlieferung in Deutschland langfristig Gefahren?

CW: Ohne eine endgültige Einschätzung geben zu können, scheint mir das mit dem umstrittenen Wechselverhältnis von Geschichte und Erinnerung zu tun zu haben. Verkürzt könnte man sagen, in einer Geschichtskultur interessiert man sich dafür, was genau gewesen ist, in einer Erinnerungskultur fokussiert man darauf, was davon heute noch übrig und gültig ist. Historienfilme beispielsweise versehen ihre Themen mit einer emotionalisierten und personalisierten Lebendigkeit, die mit Modellen der individuellen und kollektiven Erinnerung kompatibel ist; Filmgeschichte dagegen erfordert das Hineindenken in vergangene Kontexte, das minutiöse Bearbeiten von Hinweisen, den Umgang mit obsoleten Techniken und brüchigen Materialien. Wir leben heute in einer sicherlich auch durch die Digitalisierung befeuerten sehr präsentischen und damit stark erinnerungskulturell geprägten Epoche. Sollte die Balance mit der Geschichtskultur verloren gehen, sähe ich in der Tat Gefahren, auch für die Überlieferung von audiovisuellem Erbe.