Filmtechnik? Wer braucht noch Filmtechnik?

Von Simon Wyss

 

Die Filmarchive, und zwar existenziell. Man kann natürlich beschließen, das Phänomen Film der Geschichte zu übergeben. Dann kann man die Filmarchive schließen und sich von dem alten Krempel trennen. Apparate ins Altmetall, Filmdosen auch, Plastik in die Verbrennung.
Die Berufe sind ja ausgestorben. Cutter, Vorführer, Kopiermaschinenbauer, Entwickler, alles Vergangenheit. Das Publikum scheint „Film“ frei von Staub und Schrammen, ohne Bildstandprobleme, ohne Verstümmelungen an Rollenanfang und -ende erleben zu wollen. Man kann die Bildfrequenz programmieren, alles in Butter.
Nein, alles im Eimer. Jeder Versuch, eine saubere Lösung für die technischen Anforderungen um den Film zu finden, führt zu Zerstörung und Verlust dessen, was man mit der vermeintlich sauberen Lösung wollte. Es ist logisch, jedenfalls für mich als Filmtechniker.
Das ist einer meiner Berufe. Ich befasse mich seit 40 Jahren mit fotochemischem Film. Ich habe Kamera geführt, vorführen gelernt und über viele Jahre in der Schweiz und in Deutschland Kino gemacht. Ich habe mit Maschinen und von Hand alle Arten Filme entwickelt, jahrelang, bei verschiedenen Unternehmen, eines davon mein eigenes Labor. Ich habe Kameras, Objektive, Kopieranlagen und Montage-Material repariert, weiss genau, worauf es bei den einzelnen Geräten ankommt. Ich habe Monate, Jahre an Schneidegeräten zugebracht, Oude Delft, Steenbeck, Moviola, Prevost, Schmid. Bild und Ton synchron legen, dies als kleiner Einblick in diese Arbeit, ist eine menschliche Leistung. Man behält Bilder und Töne im Gedächtnis, um sie bei Gelegenheit zusammenzubringen. Wenn die Klappe fehlt, sucht man sich ein markantes Geräusch, dessen Entstehung zu sehen ist, oder bei Sprechenden einen Lippenlaut, P oder F. Manchmal gibt es nichts, was einem die Suche erleichterte, und die Sache muss grundsätzlich anders angegangen werden. Kenntnis der grundlegenden Zusammenhänge hilft.

Die Filmtechnik hat sich seit der Erfindung des biegsamen Trägers für fotografische Schichten 1887 kaum verändert. Zum ursprünglichen Celluloïd sind Acetate, Butyrate, Propionate und das vollsynthetische PET hinzugekommen. Noch immer müssen die Rohfilmhersteller das Trägermaterial speziell behandeln, damit die aufgegossenen Schichten fest haften. Versuche mit gelatinelosem Filmmaterial hatten zu wenig Erfolg. Noch heute wird begossen, dann in Streifen geschnitten, dann perforiert und zuletzt abgelängt. Die Filmprojektion funktioniert heute noch gleich wie 1896. Der Stand der Technik bei den Kameras ist 1946. Seither ist nichts grundlegend Neues mehr eingeführt worden. Kopieranlagen sind Stand der Technik 1911. Perforiert wird immer noch wie 1908. Die letzte filmtechnische Neuerung, IMAX, hat keine Veränderungen nach sich gezogen, sie ist museal geworden wie Technicolor.

Am Film, der halb Fotografie und halb Mechanik ist, gibt es nichts zu digitalisieren. Die Fotografie ist eine Erfindung, derer man mit dem Computer niemals gerecht wird. Ursprünglich atomar dünn, Héliographie und Daguerreotypie, dafür mit kornloser Auflösung, wehrt sie jedes Herabbrechen auf binäre Werte als sinnlos ab. Die Schönheit von mit dem Bitumen-Verfahren hergestellten Bildern stirbt beim Scannen sofort. Der verblüffende Detailreichtum von Daguerreotypien geht in einer Datei verloren. Die Farben des Lippmann- oder des Autochrome-Verfahrens sind einzigartig. Es ist die Ganzheit, für Fremdwortfans die Integrität der Fotografie, welche vom neuen uranischen Zeitalter angegriffen wird. Das Gleiche beim Kinematografen: Die Verbindung des Gegenstandes Film mit Mechanik macht das Phänomen aus, nichts anderes. Das Entscheidende ist, daß die Hälfte der Angelegenheit, die Mechanik, nicht in Daten enthalten ist. Video ist Video und niemals Film.

Man kann Filmbilder abstrahieren wie den Text eines Buches. Buch und Film verschwinden aber dabei, wir lassen das Papier, den Band, den Einband, die Druckfarben, den Eindruck im Papier, den Projektor, das Bogenlicht, die Bildwand, den verdunkelten Raum und die Menschen um Buch und Kino eingehen, von Tiefdruck und Lithografie ganz zu schweigen.

Die vermeintliche Lösung mit Digital-Technik ist der Untergang für Kulturerscheinungen. Filmarchivare, die den fotoreprografischen, ich sage an dieser Stelle noch nicht filmtechnischen, Weg verlassen, brechen mit dem Zweck ihrer Institution. Computer-Technik im Filmarchiv ist Hochverrat. Es geht auch nicht an, Kino-Projektoren als Dekor aufzustellen, da eine Synchronklappe und dort ein Stativ zu drapieren. Die Gebrauchsgegenstände der Kinematografie sind kein Blattwerk, mit dem man den Blumenstrauß unterfüttert. Die Synchronklappe kann mit Verstand und in Abrede mit den Beteiligten geschlagen werden. Alles andere ist Aneignung durch Banausen, rücksichtsloser Umgang mit etwas Unverstandenem, einfach barbarisch.

Ich habe nichts gegen Computer und binär-numerisches Rechnen. Als gelernter Polymechaniker beherrsche ich das Erstellen von Bearbeitungsprogrammen mit CAD und CAM. Die Mechanik hat jedoch mit CNC-Fertigung nichts zu tun, sie bleibt auf alle Zeiten ein Berufszweig und Berufe gehen von menschlichem Werken aus. Das Konkrete kann niemals vom Abstrakten abgelöst werden. Wer will sich denn entmaterialisieren?

Es schwirren viele Irrtümer und Falschmeldungen durchs Internet, mit unguten Folgen.

Lumière-Filme werden flimmerfrei dargestellt, was historisch falsch ist, sie flimmerten stark.

Viele Filme werden mit beschnittenem Bild gezeigt, weil die Fernsehwelt ein Brett im Seitenverhältnis 16 zu 9 vor dem Kopf hat. Die Lumière-Filme haben das Bildformat 5 zu 4.

Es gab noch manch anderes System, zum Beispiel Eidoloscope mit dem Bildseitenverhältnis 7 zu 3. Das mit dem Pariser Tonfilmfrieden von 1930 festgelegte Bildseitenverhältnis ist dasselbe wie das seit 1909 genormte Stummfilmbild, nämlich 4 zu 3. Es ist noch heute in Kraft. Es ist das dynamischste aller Bildseitenverhältnisse, weil es das spannungsgeladene Dreieck der Seitenlängen 5-4-3 enthält. Das ist der tiefere Grund dafür, dass William Dickson bei Edison es für seine Experimente gewählt hatte. Im Kino wird immer der größtmögliche Ausschnitt aus dem Filmbild im entsprechenden Seitenverhältnis projiziert. Etwas Raum braucht man wegen der oft schrägen und windschiefen Projektion, die meistens abwärts geht. Wissen Sie, daß bei Schrägprojektion ein Trapez mit bogenförmigen Ober- und Unterkanten herausgegriffen wird?

Die ersten vierzig Jahre, von 1888 bis 1928, wurden Filmkameras von Hand gekurbelt. Mit dem Tonfilm endete diese Ära. Es wurde auch nicht mehr mit der Handkurbel vorgeführt. Die anarchische, wilde, fantastische Zeit des Kinematografen wich derjenigen des Einheits- und Programmkino. Das Publikum brachte seit dem Ersten Weltkrieg selber viel zum Geschehen im Filmpalast mit, der 100-Minuten-Normfilm wurde möglich. Zum Glück für die Vielfalt konnten sich in den einzelnen Ländern sprachlich eigene Kinematografien entwickeln, zum Beispiel in der Schweiz. Unsere Mundartproduktionen werden erst ein Mal nur von uns verstanden und genossen. Seit den 1960er Jahren war diese Qualität Dokumentarfilmen zu Gute gekommen.

Das Filmhandwerk, die Dreck- und Fleißarbeit, Gewerkschaften und der materielle Aufwand sind ebenso erhaltenswert wie eine Kinokopie. Als Archivar würde ich hinter jedem Gegenstand den Menschen suchen. Die Arbeit hinterläßt ihre Spuren im und am Material. Da sind mit Tusche auf den Filmrand geschriebene Montage-Nummern, ins Negativ gestanzte Randkerben, auf Leatheroid-Bänder geheftete Gelatinefilter, Lichterlisten, Schnittlisten, Drehbücher, Hilfsmaterialien für den Tonschnitt, die Tonzange, Geräte zum Anbringen der Aktwechselzeichen. Da sind die Vorführer, die in den Lampenhäusern Kohlen auslegen, um die letzten Feuchtigkeitsreste auszutreiben. Zur Filmarbeit gehören die vielen Stunden Titrier- und Ansetzarbeit im Labor zum Aufrechterhalten der Eigenschaften der chemischen Bäder. Zum Filmhandwerk zähle ich das Geschick der Lichtbestimmer, die einen Kurzbildabschnitt vor dem Fenster einschätzen. Sie sagen „Plus 0,25 Blau und Minus 0,075 Rot“, eine Hand schon am Filterkasten. Wo das Handwerk nicht mehr zu erkennen ist, sehe ich auch keinen Grund für die Lagerung des entsprechenden Materials: Massenkopien aus anderen Ländern würde ich zurücksenden, das eigene Land soll vorgehen.

Traurig ist die Tatsache, daß es kaum mehr Ingenieure gibt, die sich mit Filmtechnik abgeben. Das Unternehmertum, es muß nüchtern so gesehen werden, wie es ist, hat an einem Tische Platz. Aaton, ARRI, Panavision, Mitchell, Bell & Howell, Debrie, die großen Namen dieser Branche haben alle die Filmtechnik aufgegeben. Wird es noch Neues geben? Logmar ist aufgetaucht, Kodak spricht von einer neuen Kamera. Es gibt neue Stativgetriebeköpfe. KEM und Steenbeck liefern archivgerechtes Equipment. Pyral-Mulann ist noch da und MK Films. Einzelne Mechaniker fertigen da und dort etwas an, das gebraucht wird. Wahrhaft Neues scheint aber nicht mehr zu kommen. Hier verstehe ich die Filmarchivare. Sie glauben, die letzten Mohikaner zu sein.

Berechtigt das zur Aufgabe? Ich finde, nicht im Geringsten. Die Filmtechnik birgt nämlich noch Reserven. Wenn es gelänge, das Potenzial der dritten Dimension zu nutzen, eine geringere Dicke, dann käme einiges in Bewegung. Der leere Plastikträger zwei Drittel dünner gemacht würde das Fassungsvermögen jeder Filmdose verdreifachen oder das Volumen künftiger Duplikate könnte drei Mal kleiner sein als das der Ausgangsmaterialien.

Ich habe da eine Erfindung zur Hand. 2007 habe ich erste Duplikate auf halbstarkem Filmmaterial gemacht und verkauft. Bei der Cinémathèque suisse leistet man sich filmtechnische Laien als Direktoren. Ex-Direktor Marc Wehrlin, dem ich am 24. Juli 2008 Muster der dünneren Filme in 35 und in 16 vorgelegt habe, schuldet mir noch heute eine Stellungnahme dazu. Er sagte an jenem Tag in Bern: „Sie werden von mir hören.“

Auch Filmwissenschafter leben abgehoben. 1989, bei der Antrittsvorlesung der ersten Professorin dieses Fachs an der Universität Zürich amtete ich als Vorführer. Der schlecht gewartete 16-mm-Projektor erforderte, dass ich eine halbe Stunde lang eine Umlenkrolle mit dem Finger unterstützte, damit die Tonwiedergabe nicht jault. Wie ich davon berichtete, wurde gleich beschlossen, am Seminar nie wieder Perforiertes zu spielen.

Simon Wyss, Basel, 31. Oktober 2016