Die Digitalisierungsfalle (DA)

von Dirk Alt

Ende Juli dieses Jahres veröffentlichte die Filmförderungsanstalt (FFA) auf ihrer Website eine „Kostenabschätzung zur digitalen Sicherung des Filmischen Erbes“, die auf Initiative von Kulturstaatsministerin Monika Grütters erstellt worden war. Darin bezifferte die Wirtschaftsprüfungsagentur PricewaterhouseCoopers (PWC) den Finanzbedarf, der erforderlich wäre, um den vermuteten filmischen Gesamtbestand zu digitalisieren, auf 474 Millionen Euro. Auch wenn im laufenden Jahr vom Amt der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) und der FFA nur je eine Million Euro für diesen Zweck bereitgestellt wird, kann man das PWC-Gutachten als Grundlage und Richtungsweiser für eine zukünftige Digitalisierungs-Offensive der Bundesregierung ansehen. Vor allem aber zeichnet sich ein Paradigmenwechsel von der traditionell analogen zu einer ausschließlich digitalen Archivierungsstrategie ab.

In einer Gegenwart, in der Schneidetisch und Filmprojektor fast nur noch museale Bedeutung haben, schafft die Digitalisierung einen Zugang, der auf anderem Weg nicht mehr gegeben ist. Wahrnehmung und kommerzielle Auswertung eines Films sind an dessen Digitalisierung gebunden. Mit Hilfe von Online-Kanälen eröffnet die Digitalisierung phantastische Distributionswege, von denen man früher nicht zu träumen wagte. Theoretisch ermöglicht sie sogar die Erstellung einer von Helmut Herbst geforderten „Handbibliothek des deutschen Filmerbes“, die sämtliche Archivbestände transparent und das Filmerbe erstmals in seiner Gänze sicht- und recherchierbar machen würde.

Während also unter dem Aspekt des Zugangs die Digitalisierung gar nicht stark genug gewichtet werden kann, sieht es hinsichtlich der im Namen des Gutachtens verheißenen „Sicherung“ grundlegend anders aus. Erwartet wird als Resultat der Digitalisierungs-Offensive ein auf 100 Petabyte geschätztes Datenvolumen, das vierfach in zeitgemäße Speichertechnologien eingelesen werden soll. Für die „initiale Anschaffung“ der Speicherkapazität werden pauschal 20 Millionen Euro veranschlagt, wobei dem Gutachten zufolge noch keine Entscheidung darüber gefallen ist, welche Technologie verwendet werden soll. Schwerer wiegt, dass diese als „digitale Langzeitarchivierung“ bezeichnete Speicherung in keiner Weise problematisiert wird. Dabei gibt es gute Gründe, ihr zu misstrauen – vor allem im Vergleich mit der bewährten und bislang gültigen Archivierungspraxis. Diese sieht die Kopierung historischer Originale auf den seit den 1990er Jahren gebräuchlichen Polyesterfilm vor. Im Gegensatz zu früheren Filmfabrikaten auf Nitrozellulose und (Tri-)Azetat ist Polyesterfilm ein archivfestes Speichermedium mit einer Lebenserwartung von geschätzten 500 Jahren.

Um hingegen digitale Daten dauerhaft zu erhalten, müssen sie ständig migriert werden; die Kurzlebigkeit der Speichermedien macht den regelmäßigen Austausch derselben erforderlich, sodass auch von einer größeren Wirtschaftlichkeit gegenüber der Analogkopierung bisher nicht die Rede sein kann. Die ungelöste Frage der Langzeit-Speicherung bezeichnet der Medienhistoriker Joachim Polzer als „Achillesferse“ der digitalen Kultur. Seit längerem warnen Spezialisten vor „digitalem Alzheimer“, einem schleichenden Datenverlust, der das sicher geglaubte kulturelle Gedächtnis bedroht. Die digitale Speicherung ist jedoch nicht nur pflegeintensiv, sondern auch hochgradig angreifbar. Die Wahrscheinlichkeit solcher Angriffe steigt nicht zuletzt mit den krisenhaften Entwicklungen der internationalen Politik: So ist anzunehmen, dass sich die zukünftige Kriegsführung gezielt gegen die Daten-Infrastruktur richten und damit auch – ob absichtsvoll oder als Kollateralschaden – unser kulturelles Wissen treffen wird, wenn wir es in ausschließlich digitaler Form anlegen.

Diese Risiken könnten umgangen werden, wenn neben der Digitalisierungs-Offensive auch die analoge Sicherung weiter betrieben würde. Stattdessen hält das PWC-Gutachten jedoch eine abgründige Pointe bereit: „Aus Kostengründen“, heißt es darin, sei parallel zur Digitalisierung „nur eine sehr selektive analoge Archivierung zu erwägen.“ An anderer Stelle kommt unumwunden zum Ausdruck, dass die Digitalisierung „langfristig mit Abbau der analogen Archivierungsbestände“ gegenfinanziert werden soll. Im Klartext bedeutet das nichts anderes, als dass die filmischen Ausgangsmaterialien nach erfolgter Digitalisierung zum größten Teil entsorgt werden sollen. Zweck der Planung wäre mithin, ein digitales Surrogat des Filmerbes zu schaffen, um das letztere anschließend vernichten zu können; das wäre wiederum so, als würden wir Gemälde von Dürer oder Cranach abfotografieren und sie anschließend verbrennen, um sie nicht länger konservatorisch pflegen zu müssen. Diesen Einfall, der an Kulturferne und Einfalt schwer zu übertreffen sein dürfte, wies der Künstlerische Direktor der Deutschen Kinemathek, Rainer Rother, im Deutschlandradio als „Vandalismus“ zurück. Auch andere Vertreter der Fachöffentlichkeit äußerten sich empört.

Dennoch ist das Szenario der Filmvernichtung nicht so absurd, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Unter Berufung auf Brandschutzbestimmungen vernichtet das Bundesarchiv seit Jahrzehnten bereits leicht entzündlichen Nitrofilme. Diese Praxis betrifft ausgerechnet den ältesten überlieferten Teil des Filmerbes: Originalfilme aus dem Kaiserreich und der Zeit der Weltkriege werden nach der Umkopierung systematisch kassiert, wie es im Archiv-Jargon heißt, und zwar selbst dann, wenn sie einwandfrei erhalten sind und noch weitere 100 oder 200 Jahre überdauern würden. Dies widerspricht nicht nur dem „Code of Ethics“ des internationalen Filmarchiv-Verbandes FIAF, sondern wäre in großen Filmnationen wie Frankreich, Großbritannien und den USA schlicht nicht vorstellbar.

Das in dem PWC-Gutachten verborgene Bedrohungspotential muss daher ernstgenommen werden. Gehen wir einmal davon aus, das darin umrissene Vorgehen würde tatsächlich konsequent in die Tat umgesetzt werden: Das Resultat wäre eine hochgradig pflegeintensive Datenmasse mit unsicheren Überlebenschancen, die darüber hinaus beliebig manipulierbar wäre. Die mangelnde Fälschungssicherheit digitaler Daten beträfe insbesondere die zeitgeschichtliche Aussagekraft von Filmen, die mithin als Dokumente weitgehend unbrauchbar würden. Da das authentische Material, anhand dessen sie überprüft werden könnten, nicht mehr vorhanden wäre, wären dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Geschichte ist kein entpolitisierter Raum – im Gegenteil. Im Ukraine-Konflikt lässt sich die Instrumentalisierung des „Großen Vaterländischen Krieges“ durch die russischen Medien beobachten, die deutlich zeigt, dass geschichtliche Bezüge nach wie vor zur Legitimierung oder Verschleierung politisch-militärischer Interessen herbeigezerrt werden. Daran wird auch die Zukunft nichts ändern.

Natürlich bietet auch der Erhalt von Zeitdokumenten keinen Schutz gegen den potentiellen Missbrauch unserer Geschichte – einem solchen Missbrauch aber durch mutwillige Zerstörung dieser Dokumente Vorschub zu leisten, ist verantwortungslos.

Das PWC-Gutachten, das in diese verhängnisvolle Richtung weist, sollte daher, wie Monika Grütters erklärte, als „Diskussionsgrundlage“ betrachtet werden. Diese Diskussion muss jetzt geführt werden – und nicht hinsichtlich des Zugangs, sondern der Sicherung des Filmerbes.

Ein theoretisch verlustfreier Bild- und Tontransfer ist nur durch höchstauflösende Digitalisierung möglich – durch optische Kopierung jedoch nicht. Um die Sicherung der so gewonnenen Informationen zu gewährleisten, müssen die digitalisierten Filme nach dem US-amerikanischen Modell re-analogisiert, d.h. auf Polyesterfilm ausbelichtet werden – als physische Kopien, die mehrere hundert Jahre überdauern können. Wer das deutsche Filmerbe sichern will, muss daher zwei primäre Ziele verfolgen: zum einen die Originale bestmöglich schützen – zum anderen die analoge Kopiertechnik erhalten und das schwindende Know-How bewahren. Wenn wir jetzt nicht in diesem Sinne handeln, wird kein Weg mehr aus der Digitalisierungsfalle herausführen.

 

Die Langfassung des Artikels erschien in DER FREITAG vom 3. September 2015 unter dem Titel „Digital ist schlechter“.