Die Bedrohung des regionalen Filmerbes am Beispiel der niedersächsischen Kreisbildstellen
von Dirk Alt
Das Spektrum der Originalfilme, die noch in niedersächsischen Stadt- und Kommunalarchiven, Medienzentren, Kreisbildstellen, Museen und Gedenkstätten lagern, reicht von umfangreichen Lehrfilmbeständen, vor allem Produktionen des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU), über filmische Dokumentationen öffentlicher Einrichtungen, Vereine und Industriebetriebe bis hin zu privaten, mitunter noch unerschlossenen Filmnachlässen. Zwar stammt der größte Teil der Überlieferung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, es sind jedoch auch Filme aus den 1940er, 30er, 20er und – selten – 10er Jahren darunter.
Mit diesen Originalen, so sind sich die meisten besitzenden Institutionen einig, ist gegenwärtig praktisch nichts anzufangen. Es fehlt an Vorführeinrichtungen und an technischem Sachverstand. Um die Filme vorführen, auswerten oder auch nur inhaltlich bewerten zu können, müssen sie auf ein zeitgemäßes Medium übertragen werden – Digitalisierung lautet das Gebot der Stunde. Hat man die Filme erst einmal auf einer DVD vorliegen, scheint das Problem gelöst zu sein. Wozu sich noch mit dem Ballast der Originalfilme beschweren, wenn man den Inhalt auf einem Silberling konserviert hat, den man zudem platzsparend ins Regal einsortieren kann?
Bereits im Zeitalter der VHS-Kassette verfielen manche Archivare der irrigen Auffassung, Originalfilme entsorgen zu können, nachdem sie diese auf dem neueren Wiedergabemedium „gesichert“ hatten. Noch größere Verluste ereigneten sich infolge der ersten Digitalisierungs-Euphorie – mit der Konsequenz, dass uns von manchen Filmdokumenten heute nur noch minderwertige SD-Digitalisate zur Verfügung stehen, die im schlimmsten Fall nicht einmal abgetastet, sondern vom Projektionsbild abgefilmt wurden.
Oftmals ist den Verantwortlichen nicht bewusst, dass weder DVD noch Festplatte ein zur Dauerlagerung geeignetes Speichermedium darstellen. Erst recht fehlt ihnen eine Vorstellung davon, dass Bildqualität, -schärfe und -auflösung des originalen Filmstreifens mittels SD-Digitalisierung überhaupt nicht reproduzierbar sind, und dass der Originalfilm, je älter er ist, ein Zeitdokument darstellt, mit dem verantwortungsvoll umgegangen werden muss. Dies betrifft insbesondere Filme aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Zu häufig erweist sich die Digitalisierung, so wünschenswert und notwendig sie ist, in der Praxis als fatal für den Erhalt des analogen Ausgangsmaterials.
Die Wurzeln der Kreisbildstellen als kommunale Distributionszentren für schulische Unterrichtsmedien liegen in den 1920er Jahren. Formal eingerichtet wurde das Bildstellenwesen auf Stadt- und Kreisebene infolge eines Erlasses des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust vom Juni 1934. In Niedersachsen vertrieben die Bildstellen, die Mitte der 90er Jahre entweder aufgelöst oder in Medienzentren umgewandelt wurden, einen ca. 120.000 Rollen umfassenden Bestand an 16-mm-Filmen. Mit dem Siegeszug der VHS-Kassette begann das Interesse am Schmalfilm zu schwinden – Einsparungen, die den Abbau von technischem Personal und die Verkleinerung von Räumlichkeiten zur Folge hatten, und natürlich der Wechsel zunächst zur VHS, später zur DVD und zuletzt zur Online-Distribution, erhöhten den Druck, die 16-mm-Bestände zu verkleinern bzw. sich endgültig von ihnen zu trennen. Zum Teil wurden Filme an Archive, Museen und Bibliotheken oder auch interessierte Privatpersonen abgegeben. Oft jedoch wurde die Entscheidung über den Verbleib der Bestände hinausgezögert, um dann durch Umzüge oder Modernisierungsumbauten von einem Tag auf den anderen erzwungen zu werden: „Montag kommen die Handwerker…“ – so lautete die in mehreren Fällen gebrauchte Begründung, um Filmbestände ohne näheres Ansehen zu entsorgen.
Besonders bedauerlich: Die betroffenen Bestände erschöpfen sich nicht im Angebot ehemaliger Lehrfilme. Eine Minderheit der Bildstellen, vielleicht ein Zehntel, stellten auf 16-mm-Film Eigenproduktionen her, die oft heimatkundlicher Art waren und Themen aus dem regionalen Umfeld behandelten. Thomas Garzke, ehemals Mitarbeiter der niedersächsischen Landesmedienstelle, schätzt 200 dieser Eigenproduktionen, die in wenigen Kopien zirkulierten. Hinzu kommen Diareihen, 8-mm-Filme und eine völlig unbekannte Anzahl von Unikaten aus dem heimatkundlichen Bereich, die den Bildstellen von unterschiedlichsten Herstellern als Dauerleihgaben zugingen und deren Provenienz heute oft gar nicht mehr geklärt werden kann. In der Kreismedienstelle Oldenburg in Wildeshausen etwa tauchte ein Konvolut schwarz-weißer und farbiger 16-mm-Filme aus Großenkneten auf, das den dortigen Gemeindealltag zwischen 1954 und 1958 festhält: Ob Sport- oder Erntedankfeste, Treibjagden, Jahrmärkte, Straßenbau oder die Übergabe eines neuen Löschfahrzeugs für die Feuerwehr, der regionalgeschichtliche Wert dieser stummen Filmberichte kann kaum hoch genug geschätzt werden.
Da die Unikate niemals in den Verleih gelangten, kann der Umfang der bislang eingetretenen Totalverluste nicht eingeschätzt werden. Allerdings treten immer wieder Fälle auf wie der einer Behindertensportgruppe, die sich regelmäßig einen über sie gedrehten Dokumentarfilm bei einer Bildstelle ausgeliehen hatte und plötzlich die Auskunft erhielt, derselbe sei nach Auflösung der Bestände nicht mehr vorhanden.
Auch hinsichtlich der bis in die 30er Jahre zurückreichenden Lehrfilme dünnt die Überlieferung zunehmend aus. Selbst Titel, die früher in Hunderten von Kopien zirkulierten, entwickeln sich zur Raritäten: Ein Beispiel ist der sehr wichtige, mit Ton gedrehte Nachkriegs-Dokumentarfilm „Niedersachsen im Aufbau“ (1951, Regie: Willi Mohaupt), von dem der Gesellschaft für Filmstudien / GFS Hannover eine schlecht erhaltene und nicht ganz vollständige 16-mm-Kopie vorliegt. Eine zweite Kopie befand sich im Bestand des Medienzentrums Braunschweig, wurde zunächst an das Stadtarchiv Braunschweig abgegeben und 2014 – gemeinsam mit Hunderten anderer Titel des Medienzentrums – vernichtet. Zuvor hatte das Stadtarchiv dem Bundesarchiv die Übernahme der Bestände angeboten, die jedoch abgelehnt wurde. Eine Nachfrage beim Bundesarchiv ergab, dass sich keinerlei Materialien zu diesem Film in den Beständen des Bundesarchivs befinden.
Das Beispiel zeigt, dass zu häufig fälschlich darauf vertraut wird, dass irgendwo, wenn nicht im eigenen Bundesland, so in einem anderen, noch Kopien der eigenen Filme herumliegen und dass jemand für ihre Aufbewahrung sorgen wird. Und genau diese Geisteshaltung führt dazu, dass am Schluss keine Kopie mehr vorhanden ist – ganz gleich wo.
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Die Langfassung des Artikels erschien im Rundbrief Nr. 119 (September-November 2015) des Niedersächsischen Film- und Medienbüros unter dem Titel „Montag kommen die Handwerker…“ – Wie Niedersachsens historisches Filmerbe von der Bildfläche verschwindet.
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[Fotos: Thomas Garzke, Gesellschaft für Filmstudien]