Filmarchive präsentieren sich gern durch glanzvolle Premieren restaurierter Klassiker. Viel wichtiger aber ist es, dass sie erhalten, was vielleicht nie jemand sieht.
Von Daniel Kothenschulte
In der Archäologie vollzog sich der Sinneswandel schon vor drei Jahrzehnten. Seither gilt es als Tugend, nicht mehr nach jedem Schatz zu graben, sondern künftigen Generationen auch noch etwas übrig zu lassen – mit ihrem besseren Gerät werden sie dabei weniger kaputt machen. So ist zum Beispiel der Kölner Neumarkt vielleicht einer der hässlichsten Plätze in Europa. Aber auch einer der kostbarsten. Erstmals erwähnt 1076, hat auf ihm seither nie ein Haus gestanden. Unschätzbar, was seit der Römerzeit noch in dem unbebauten Boden liegen dürfte. Also bleibt er besser zu.
So möchte man sich die Filmarchive auch vorstellen: Als Orte, an denen künftige Generationen noch etwas zu entdecken haben. Leider sind Nitrozellulose und Acetat so viel vergänglicher als Ton, Steine und Scherben. Helmut Herbst hat vorgeschlagen, unabhängig von der fraglos gebotenen wissenschaftlichen Restaurierung bedeutender Einzelwerke flächendeckend den Bestand des Filmerbes zu digitalisieren. Zugleich sollen die Filmmaterialen unter bestmöglichen Bedingungen bewahrt werden. Das ist eine gute Idee, auch wenn jetzt viele sagen, dass das nicht geht.
In ihrer Replik gaben Rainer Rother und Martin Koerber von der Stiftung Deutsche Kinemathek zu bedenken: „Ein solches Vorgehen würde in hohem Masse Mittel binden, ohne ein sichtbares Ergebnis zu liefern.“ Sicher, man würde Millionen in Filme stecken, die vielleicht niemand jemals mehr ansehen oder gar zeigen wird. So wie eben auch die Deutsche Nationalbibliothek Millionen von Büchern aufhebt, die niemand jemals lesen wird. Aber genauso sicher ist es, dass in dieser Masse täglich Entdeckungen gemacht und Rätsel gelöst werden, dass jemand auf vergessene Schönheit stößt.
Nichts wäre nun fataler, als einen Großteil der Mittel zur Restaurierung darauf zu verwenden, die längst ausgegrabenen Kostbarkeiten immer wieder neu zu restaurieren und den überwiegenden Rest dem Verfall preiszugeben. Aber genau das ist die Realität. Und oft stehen am Ende der Millionenprojekte Events, die sich vom Erlebnis des Mediums Film weit entfernen.
Ein Beispiel ist die Uraufführung der restaurierten Fassung des expressionistischen Meisterwerks „Das Kabinett des Dr. Caligari“ bei der Berlinale 2014. Einerseits hatte man über weite Strecken noch nie ein so scharfes und prächtiges Bild gesehen wie bei den Teilen, die direkt vom Kameranegativ gescannt wurden, das zum Glück fast ein Jahrhundert lang in gutem Zustand überleben konnte. Anderseits war eine Ausbelichtung auf Film am Ende der Restaurierung nicht mehr vorgesehen. Nicht einmal der Langlebigkeit halber.
So sahen die Zuschauer bei der Premiere in der Berliner Philharmonie nur eine Digitalprojektion, die zudem nicht mehr in der idealen Bildfrequenz von etwa 16 Bildern in der Sekunde lief. Um die richtige Geschwindigkeit auch bei 25 Video-Bildern in der Sekunde zu simulieren, war jedes dritte verdoppelt worden. So schlich der von Conrad Veidt gespielte Somnambule nicht mehr, wie so oft beschrieben, geschmeidig-schattenhaft an den gemalten Hauswänden entlang. Abgesehen davon, dass digitale Projektionen ohnehin nie die gleiche ästhetische Anmutung haben wird wie durchleuchtetes Zelluloid, ruckelte und zuckelte er über die Leinwand.
Die von der Politik geförderte Digitalisierung der Filmtheater hat die Filmerfahrung zu einer Seltenheit werden lassen, und die meisten Archive folgen aus ökonomischen Gründen dieser Politik. Die Murnaustiftung etwa drängt Entleiher dazu, statt einer Filmkopie, eine DVD zu projizieren. Wer sich dazu im Bundesarchiv eine DVD ziehen lässt, bekommt sie nicht ohne ein eingeblendetes schwarzrotgoldenes Logo, das an das Trikot der Fußballnationalmannschaft erinnert.
Doch ein technisches Medium lässt sich nun einmal nur in der originalen Technik erleben. Es reicht nicht, die Bildinformation zu bewahren, selbst wenn das digitale Daten möglich machen. Am Ende muss die Möglichkeit des adäquaten Erlebens dieser Bilder und Töne stehen. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass dies nicht einmal bei den berühmtesten Klassikern der Filmgeschichte sicher der Fall war. Wenn das Bundesarchiv die bereits umkopierten Nitro-Originale vernichtet, wie es dort noch heute regelmäßig geschieht, beraubt es künftige Generationen, vernichtet unersetzliches Kulturgut.
Älteren Sicherungskopien und Restaurierungen sieht man schnell an, wann sie entstanden. 1957 etwa, als das Sicherheitsfilmgesetz massenhaft Besitzer von Filmkopien dazu brachte, ganze Archive zu vernichten, stand in Deutschland noch nicht einmal das damals neuartige Mittel der Nasskopierung zur Verfügung. Kratzer wurden somit ungefiltert von einer Kopie in die nächste fort getragen. Und bis in die frühen Achtziger Jahre galten die prächtigen Einfärbungen der Stummfilme als nicht erhaltenswert. So verschwanden sie für immer in schwarzweißen Duplikaten. Inzwischen ist die „Kassation“ der Originale zwar vom Weltverband der Filmarchive, FIAF, geächtet. Im Bundesarchiv aber findet sie dennoch statt. Filmforscher können lange erzählen vom Karl-Valentin-Kurzfilm oder der handkolorierten Walter-Ruttmann-Absraktion, die sie noch mit eigenen Augen sahen, bis sie dann ganz plötzlich nicht mehr aufzufinden waren.
Derzeit ändern sich in regelmäßigen Abständen die Standards für digitale Restaurierungen. Vor weniger als zehn Jahren wurde eine Auflösung von 2K noch als dem Filmmaterial adäquat ausgewiesen. Bereits im Jahr 2009 nannte Nikolas Wostry, der technische Direktor des Filmarchivs Austria, in einem Interview der Zeitschrift „Ray“ die damals höchste verfügbare Größe 6K ideal. Bei der jüngsten „Caligari“-Restaurierung arbeitete die Stiftung Deutsche Kinemathek mit einer Auflösung von 4K, wofür es durchaus Argumente gibt, denn jede Vorlage ist anders. Gleichzeitig entwickelt sich eine Auflösung von 4K (HDR) zum Standard für Ultra-HD, und es gibt bereits Scanner für 6K, die speziell für die Filmrestaurierung zur Verfügung stehen. Was also soll der Maßstab sein?
Tatsächlich lässt sich die Bildinformation eines 35mm-Bildes nicht einfach in Pixelzahlen umrechnen; denn die Auflösung bestimmt nicht nur die Bildschärfe sondern auch die Kontraste. Noch lange ist das notwendige Wissen über ideale Digitalisierungen nicht gesammelt. Umso wichtiger ist daher der Erhalt des originalen Filmmaterials. Darüber sind sich offiziell auch (fast) alle Archive einig. Abgesehen vom Bundesarchiv.
Die Filmförderungsanstalt FFA verfolgt ein wichtiges Programm mit dem Titel „Digialisierung von Content“, das Rechteinhabern dabei behilflich ist, ihre analogen Archive verwertbar zu machen. Der deutsche Kinematheksverbund wurde gebeten, dafür eine Liste mit wichtigen Titeln des Filmerbes zusammenzustellen. Auch das ist eine gute Sache. Doch die Kanonisierung der Klassiker ist ein zwiespältiges Signal, ganz gleich ob diese Liste nun hundert, „mehr als fünfhundert“ oder tausend Titel umfasst.
Sicher, der Liebe der Deutschen zum Kanon verdanken wir die großartige Repertoire-Pflege unserer Theater- und Opernbühnen. Aber dort besteht eben auch die Möglichkeit, ab und an ein vergessenes barockes Kleinod auszugraben; denn das Geschriebene ist archivarisch relativ gut gesichert. Aber wie sollen künftige Generationen solche Entdeckungen noch in der Filmgeschichte machen?
Galapremieren von neuen Restaurierungen sind wichtig. Sie erinnern uns daran, dass Kino ein Fest ist und welches Leben, welche Kunst in diesen Büchsen steckt. Doch die Arbeit von Archivaren ist zu 99 Prozent ihres Daseins glanzlos und für die Öffentlichkeit unsichtbar. So ist das nun einmal. Ihnen ist dafür zu danken, dass sie an 99 Prozent ihrer Arbeitstage unser Kulturgut für die Zukunft bewahren.
„Alles erhalten – alles zeigen“, forderte einst der Pariser Kinematheksgründer Henri Langlois. Leider hat er dann doch durch schlechte Lagermöglichkeiten viele unwiederbringliche Schätze für alle Zeit verloren. Aber seine Parole ist richtig, auch wenn sie utopisch klingt. Nur wenn auch künftige Generationen entdecken können, was unsere Gegenwart übersieht, gibt es Kultur- und Filmgeschichte.